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Auftakt der Lesereihe „Literatur vor Ort“ im Helmholtz-Gymnasium      

Die Heidelberger Autorin Marion Tauschwitz hielt am Montag, 18. 03.2024, im Rahmen der Lesereihe „Literatur vor Ort“ im Helmholtz-Gymnasium vor 50 angehenden AbiturientInnen einen Vortrag über die von ihr verfassten Biographie über Selma Merbaum.

Die Heidelberger Dramatikerin und Leiterin der AutorInnengruppe von „City of Literature“ Ingeborg von Zadow kam eigens hinzu, um die SchülerInnen darüber zu informieren, dass „City of Literature“ ein Titel der UNESCO ist, der der Stadt Heidelberg bereits 2014 verliehen worden ist. 53 „Cities of Literature“ gibt es inzwischen weltweit. In diesem Rahmen ist die Lesereihe „Literatur vor Ort“ ins Leben gerufen worden und wird vom Kulturamt finanziert. Heidelberger AutorInnen lesen in Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und SeniorInnenstätten.

Marion Tauschwitz erzählte vom Leben der jüdischen Lyrikerin Selma Merbaum, die 1942 in dem deutschen Zwangsarbeitslager Michailowka in der heutigen Ukraine mit 18 Jahren, zerschunden von der harten Arbeit, am 16. Dezember 1942 starb. Sie berichtet über ihre Reise nach Czernowitz und ihre Recherche zu Selma Merbaum, um die Biographie schreiben zu können.

Marion Tauschwitz, Heidelberger Autorin

„Erinnern heißt, die Flamme am Brennen zu halten, und nicht, die Asche zu verwahren“, zitiert sie und beschreibt Merbaums Verunsicherung und Ängste.

Die AbiturientInnen zeigen sich erschüttert und berührt – hat Selma Merbaum dieses Gedicht, das Tauschwitz nun las, kurz vor ihrem Tod geschrieben, in dem Alter also, in dem sie sich selbst befinden und bald das Abitur machen werden, das ihnen den Weg ins Leben hinaus eröffnen soll:

„Du, weißt du…

Du, weißt du, wie ein Rabe schreit,

und wie die Nacht, erschrocken bleich,

nicht weiß, wohin zu flieh`n?

Wie sie verängstigt nicht mehr weiß:

Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich,

gehört sie dem Wind oder er ihr,

und sind die Wölfe mit ihrer Gier

nicht zum Zerreißen bereit?

(…)“

aus: Marion Tauschwitz: Selma Merbaum, Springe 2014, S.253

 

„Bücher suchen sich ihren Weg“, stellt Frau Tauschwitz fest.

Hätte nicht ein Maler, der selbst im Arbeitslager gefangen war, alle Namen derer, die dort getötet wurden oder aus Erschöpfung gestorben sind, aufgeschrieben, wir wüssten nichts mehr von Selma Merbaum, die sich vor ihrer Verhaftung einer linken Jugendgruppe angeschlossen hatte, bei geheimen Treffen im Wald gewesen ist, von Freiheit geträumt hat und in ihren Gedichten ihrer Sehnsucht Ausdruck verliehen hat.

„Bücher suchen sich ihren Weg.“

Hätte sie nicht ihre Gedichte in ein kleines Poesiealbum geschrieben und vor ihrem Tod einem Freund in die Hand gedrückt, wir wüssten nichts mehr von ihrer Lyrik. Das Poesiealbum wurde später in Israel in einem Safe wiedergefunden.

 „Bücher suchen sich ihren Weg.“

Hätte nicht die Universität in Tel Aviv die Gedichte gedruckt, wären sie nicht in die Hände der Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin gelangt, denn sie hat sie schließlich mit nach Heidelberg gebracht.

Frau Tauschwitz beschrieb, dass Selma mit 15 Jahren das Gemetzel der Deutschen mitansehen musste, beobachtet hat, wie jüdische Menschen aus ihren Häusern gezerrt wurden, das Entsetzen über die Leichen auf der Straße erlebt hat, und las dann ein Gedicht von der 17jährigen Selma, die man auch die Anne Frank des Ostens nennt:

„Ich möchte leben.

Schau, das Leben ist so bunt.

Es sind so viele schöne Bälle drin.

Und viele Lippen warten, lachen, glüh`n

und tuen ihre Freude kund.

Sieh nur die Straße, wie sie steigt:

so breit und hell, als warte sie auf mich.

Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt

die Sehnsucht die sich zieht durch mich und dich

Der Wind rauscht rufend durch den Wald

er sagt mir daß das Leben singt.

Die Luft ist leise, zart und kalt,

die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und Lasten heben

und möchte kämpfen und lieben und haßen

und möchte den Himmel mit Händen faßen

und möchte frei sein und atmen und schrei`n.

Ich will nicht sterben. Nein:

Nein.

Das Leben ist rot.

das Leben ist mein.

Mein und dein.

Mein.

aus: Marion Tauschwitz: Selma Merbaum, Springe 2014, S.259

 

Alle im Musiksaal des Helmholtz-Gymnasiums hörten ergriffen zu. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können.

Frau Tauschwitz berichtete, wie Selma Merbaum in Viehwaggons verschleppt wurde, von der SS selektiert wurde zum Arbeiten, zum Steine Klopfen mit bloßen Händen, die zweite Typhuswelle im Zwangsarbeitslager dann nicht mehr überlebte und in einem Massengrab beerdigt wurde.

„Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben…“, zitiert sie Selma Merbaum.

Nach der Veranstaltung kamen verschiedene Personen zu Frau Tauschwitz und bedankten sich – sehr berührt – für Ihren Vortrag.

Das Helmholtz-Gymnasium Heidelberg schließt sich mit Nachdruck diesem Dank an.

  

Marion Tauschwitz, Gertrud Edelmann, Ingeborg von Zadow, Anne Stephan, Jürgen Rupp 

 

Text und Fotos: Gertrud Edelmann

 

 

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